Über Psychologie der individuellen Differenzen : Ideen zu einer "Differentiellen Psychologie" / von L. William Stern.
- William Stern
- Date:
- 1900
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Credit: Über Psychologie der individuellen Differenzen : Ideen zu einer "Differentiellen Psychologie" / von L. William Stern. Source: Wellcome Collection.
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![Differenzen in Form und Inhalt so augenfällig und handgreiflich wie sie der Menschengeist kaum bei irgend einer anderen Kultur- bethätigung hervorgebracht hat. Wir besitzen dank den Fort- schritten der Sprachwissenschaft eine eingehende Kenntnis von den Eigentümlichkeiten der Sprachen, von ihren Differenzen, ihren Verwandtschaftsverhältnissen, ihren Verwandlungsprozessen; aber die psychologische Erklärung all dieser Erscheinungen und ihre Verwertung zu differentialpsychologischen Zwecken fehlt meines Wissens so gut wie ganz. In Bezug auf Besonderheiten des Sprach- inhalts,1) auf Bedeutungswandel und dergleichen mag schon hie und da etwas Gelegentliches geleistet worden sein; in Bezug auf die formalen Unterschiede wohl kaum. Die „Völkerpsychologie“ hatte ihr Augenmerk wesentlich auf jene Kulturerzeugnisse und -Erscheinungen gerichtet, für welche die Volksgemeinschaft als psychisches Subjekt galt, also auf Sprache, Mythos, Sitte. Neuerdings nun beginnt man auch andere Kulturgebiete, wie Wirtschaft, Industrie und Handel, Be- rufs- und Klassen wesen, Kriminalität und Erziehung psychologisch anzubauen: wir erleben den Beginn einer Sozialpsychologie. Von ihr gilt Entsprechendes wie von der Psychologie des Volks- geistes : nicht nur die allgemeinen Gesetze der sozialen Phänomene, sondern auch ihre differentiellen Ausgestaltungen, ihre Variations- typen müssen als eigene selbständige Probleme anerkannt und be- arbeitet werden. Eine differentielle Kulturpsychologie — wenn man unter a) In Kants Anthropologie (die vielleicht den ersten, freilich recht unvoll- kommenen Versuch einer durchgeführten differentiellen Psychologie darstellt) finde ich folgende hierhergehörige Stelle [20 II C 1]: „Die Wörter: Esprit (statt hon sens), frivolite, galanterie, petit maitre, coquette, etourderie, point d’honneur, bon-ton, bureau d’esprit, bon-mot, lettre de cachet — u. dgl. lassen sich nicht leicht in andere Sprachen übersetzen, weil sie mehr die Eigentümlich- keit der Sinnesart der Nation, die sie spricht, als den Gegenstand bezeichnet, der dem Denkenden vorschwebt.“ Entsprechendes gilt von den deutschen Wörtern „Gemüt“, „gemütlich“, „Stimmung“ u. a. m. — Erwähnt sei der interessante Versuch von Brinkmann (in seinem Werk: Metaphern, Studien über den Geist der modernen Sprachen), aus den Metaphern der spanischen Sprache ein Bild der spanischen Volksindividualität zu entwickeln.](https://iiif.wellcomecollection.org/image/b28059682_0040.jp2/full/800%2C/0/default.jpg)