Über Psychologie der individuellen Differenzen : Ideen zu einer "Differentiellen Psychologie" / von L. William Stern.
- William Stern
- Date:
- 1900
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Credit: Über Psychologie der individuellen Differenzen : Ideen zu einer "Differentiellen Psychologie" / von L. William Stern. Source: Wellcome Collection.
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![materials, und inwiefern sind sie bedingt durch die höheren oder geringeren Grade der Fähigkeit, das vorhandene Material zu ver- werten, zu beachten und auszunutzen. Mit beiden Faktoren ist zu rechnen. Sowie Kurz- und Weitsichtigkeit auf organischen Bedingungen beruhen, so vermag auch Verschiedenheit im Bau des Corti’schen Organes oder der Netzhaut eine Verschiedenheit in der Abstufungsfeinheit ihrer Erregungen zu bewirken. Andrer- seits kann jeder, der sich eine Zeitlang mit einem ihm sonst ferner liegenden Sinnesgebiet eingehender beschäftigt, zu seinem Erstaunen erleben, welcher ausserordentlichen Schärfung seine Wahrnehmung hier fähig ist. Das Merkmal, welches uns beide Faktoren von einander sondern lässt, ist einfach genug. Die Grenzen der wirklichen Empfindungsabstufung, („Empfindlichkeit“ im engeren Sinne1)) bleiben unverrückbar, so lange sich das Sinnes- organ selbst nicht verändert; was daher durch psychische Be- dingungen wie Aufmerksamkeit, Willenskraft, Übung modifiziert werden kann, beruht nicht auf der Beschaffenheit des Empfin- dungsmat eriais als solchen. Deshalb muss man insbesondere Ver- suche an Personen mit geringer Unterscheidungsfähigkeit vor- nehmen und längere Zeit fortsetzen; daraus wird sich ergeben, in welchem Masse sich ihre Sinnesfeinheit den bei anderen Indi- viduen vorkommenden Höhenstufen zu nähern vermag. Nur die Unterschiede, die bei maximaler Übung bestehen bleiben, dürfen dann als auf wirklich autochthonen Eigenschaften des Sinneswerkzeugs beruhend angesehen werden. Die spärlichen Erfahrungen, die nach dieser Kichtung bisher vorliegen, machen es nun wahrscheinlich, dass die schliesslich übrigbleibenden Differenzen der echten Empfindlichkeit relativ ge- ring sind — ausserordentlich gering zum mindesten gegenüber den ursprünglich sich aufdrängenden grossen Differenzen der na- türlichen Unterscheidungstähigkeit, Der Grad der möglichen Steigerung des Unterscheidungsvermögens ist ganz überraschend, wie z. B. Versuche über Tondifferenzen, die mit völlig Unmusi- *) Nach der Terminologie Stumpfs [86' I, 30]; vergl. auch des Verfassers Psychol. d. Yeränderungsauff. S. 122.](https://iiif.wellcomecollection.org/image/b28059682_0057.jp2/full/800%2C/0/default.jpg)