Volume 1
Grundzüge der physiologischen Psychologie / von Wilhelm Wundt.
- Wilhelm Wundt
- Date:
- 1893
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Credit: Grundzüge der physiologischen Psychologie / von Wilhelm Wundt. Source: Wellcome Collection.
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![Ein wesentlicher Fortschritt dieses Systems, das in der LEiBNiz'schen Unterscheidung des Vorstellens und Strebens als der Grundkräfte der Monaden seine nächste Grundlage hat, lag darin, dass es das Gefühls- uud Begehrungs- vermögen nicht auf den Affect und das sinnliche Begehren beschränkte, son- dern ihm denselben Umfang wie der Erkenntniss gab, so dass von einem ethischen Werthunterschied nicht mehr die Rede war. Dagegen ist ersichtlich, dass bei der Unterscheidung der in den vier Hauptclassen aufgeführten einzelnen Vermögen kein systematisches Princip maßgebend ist, sondern dass dieselben rein empirisch an einander gereiht sind. In der WoLFF'schen Schule wurde diese Eintheilung mannigfach modificirt. Namentlich wurden bald Erkenntniss und Gefühl als die beiden Ilauptverraögen bezeichnet, bald wurde das Fühlen dem Erkennen und Begehren als drittes und mittleres hinzugefügt. Die letztere Classification ist es, die Kant adoptirt hat. Wolff wird schon in der empi- rischen Seelenlehre von dem Bestreben geleitet, die verschiedenen Vermögen aus einer einzigen Grundkraft, der vorstellenden abzuleiten, und seine rationale Psychologie ist zu einem großen Theil jener Aufgabe gewidmet. Kant miss- bilügte solche Versuche, gegebene Unterschiede um eines bloßen Strebens nach Einheit willen verwischen zu wollen. Dennoch ragt auch bei ihm die Erkenntniss in den Bereich der beiden andern Seelenkräfte hinüber, da jeder derselben ein besonderes Vermögen in der Sphäre des Erkennens entspricht. Indem er aber die ursprüngliche Verschiedenartigkeit des Erkennens, Fühlens und Begehrens behauptet, erstreckt sich nach ihm nur insofern das Erkenntnissvermögen über die andern, als es gesetzgeberisch auch für sie auftritt; denn es erzeugt sowohl die Naturbegriffe wie den Freiheitsbegrid, der den Grund zu den praktischen Vorschriften des Willens enthält, außerdem die zwischen beiden stehenden Zweckmäßigkeits- und Geschmacksurtheile. Demnach sagt Kant von dem Verstand im engeren Sinne, er sei gesetzgeberisch für das Erkenntniss- vermögen, die Vernunft für das Begehrungsvermögen, die Urtheilskraft für das Gefühl*). Verstand, Urtheilskraft und Vernunft, werden dann aber auch zu- sammen als Verstand im weiteren Sinne bezeichnet 2]. Anderseits adoptirt Kant zwar die Unterscheidung eines unteren und oberen Erkenntnissvermögens, von denen das erstere die Sinnlichkeit, das zweite den Verstand umfasst; aber er verwirft die Annahme eines bloßen Gradunterschiedes beider. Die Sinnlich- keit ist ihm vielmehr die receptive, der Verstand die active Seite der Erkenntniss 3). In seinem kritischen Hauptwerk ist daher die Sinnlichkeit dem Verstände gegenübergestellt: dieser für sich vermittelt die reinen, in Verbin- dung mit der Sinnlichkeit die empirischen Begriffe*). In dieser ganzen Entwicklung sind offenbar hauptsächlich drei Momente auseinander zu halten: erstens die Unterscheidung der drei Seelenvermögen, zweitens die Dreigliederung des oberen Erkenntnissvermögens, und drittens die Beziehung, in welche das letztere zu den drei HauptvermÖgen gebracht wird. Das erste stammt im wesentlichen aus der WoLFP'schen Psychologie, die beiden andern sind Kant eigenthümlich. Die frühere Philosophie hatte im allgemeinen als Vernunft (Xo'yo?) jene Thätigkeit des Geistes bezeichnet, welche durch Schließen 1) Kritik der Urtheilskraft S. 14 ff. Ausg. von Rosenkranz IV. 2) Anthropologie S. 100 u. 104. Werke, VII, 2. 3) Anthropologie S. 9,8. 4) Kritik der reinen Vernunft S. 31, 55.](https://iiif.wellcomecollection.org/image/b21293788_0001_0034.jp2/full/800%2C/0/default.jpg)