Geschlecht und Charakter : eine prinzipielle Untersuchung / von Otto Weininger.
- Date:
- 1905
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![(S. 383, Z. 22.) Die Bemerkung über Schopenhauer bedarf einer Erläuterung. Die Verwechslung von Trieb und Wille ist viel- leicht der folgenschwerste Fehler des Schopenhauerschen Systemes. So viel sie zur Popularisierung seiner Philosophie beigetragen hat, um ebensoviel hat sie die Tatsachen unzulässig vereinfacht. Aus ihr erklärt sich, wie Schopenhauer, für den das intelligible Wesen des Menschen mit Recht Wille ist, dasselbe überall in der belebten Natur und schließlich auch in der unbelebten als Bewegung wiederfinden kann. Dadurch aber kommt notwendig Konfusion in Schopenhauers System. Er ist im tiefsten Grunde dualistisch veranlagt, und hat eine monistische Metaphysik; er weiß, daß gerade das intelli- gible Wesen des Menschen Wille ist und muß doch durch eine unglückliche Psychologie, welche Willen und Intellekt in einer sehr verfehlten Weise sondert, und nur den letzteren allein dem Menschen zuteilt, diesen von Tier und Pflanze unterscheiden; er ist, was man auch sagen mag, zuletzt Optimist, als Bejah er einer anderen Seinsform, über die er nur aller positiven Bestimmungen sich ent- hält, also eines anderen Lebens: und, so paradox dies dem heutigen Ohr klinge, nur sein Monismus gibt dem System die pessimistische Wertung: indem er den gleichen Willen hier wie dort sieht, ewiges und irdisches Leben nicht scheidet, und die einzige Un- sterblichkeit danach nur die des Gattungswillens sein kann. So offenbart sich die Identifikation des höheren mit dem niederen Willensbegriff — welchen letzteren man stets als Trieb be- zeichnen sollte — als das Verhängnis seiner ganzen Philosophie. Hätte er die Kantische Moralphilosophie verstanden, so hätte er auch eingesehen, was der Unterschied zwischen Wille und Trieb ist: der Wille ist stets frei, und nur der Trieb unfrei. Es gibt gar keine Frage nach der Freiheit, sondern nur eine nach der Existenz des Willens. Alle Phänomene sind kausal bedingt; einen Willen kann darum die empirische Psycho- logie, die nur psychische Phänomene anerkennt, nicht brauchen und nicht zulassen. Denn aller Wille ist seinem Begriffe nach frei und von absoluter Spo ntaneität. Kant sagt (Grund- legung zur Metaphysik der Sitten, S. 77, Kirchmann): »Die Idee der Freiheit müssen wir voraussetzen, wenn wir uns ein Wesen als vernünftig und mit Bewußtsein seiner Kausalität in Ansehung der Handlungen, das ist mit einem Willen begabt uns denken wollen, und so finden wir, daß wir aus ebendemselben Grunde jedem mit Vernunft und Willen begabten Wesen diese Eigenschaft, sich unter der Idee seiner Freiheit zum Handeln zu bestimmen, beilegen müssen.« Unfreiheit des Willens gibt es, wie man sieht, auch für Kant gar nicht: der Wille kann gar nicht determiniert werden. Der Mensch, der will, wirklich will, will immer frei. Der Mensch hat aber freilich nicht nur einen Willen, sondern auch Triebe. Kant (ibid. S. 78): »Dieses [das moralische] Sollen ist eigentlich ein Wollen,](https://iiif.wellcomecollection.org/image/b2190425x_0616.jp2/full/800%2C/0/default.jpg)