Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie : mit Berücksichtigung der Gesetzgebung von Österreich, Deutschland und Frankreich / von R. von Krafft-Ebing.
- Date:
- 1875
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Credit: Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie : mit Berücksichtigung der Gesetzgebung von Österreich, Deutschland und Frankreich / von R. von Krafft-Ebing. Source: Wellcome Collection.
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![hineinexaminirtes Schuldbewusstsein für ein schon zur Zeit der That dagewesenes und wirklich ])es lebendes, während vielfach solchen halbkindischen jungen Leuten erst nach der That, wenn sie den angerichteten Schaden überschauen, die Folgen jener empfinden, durch die Angehörigen, die Untersuchungsbeamten, den Geistlichen etc. auf ihr Unrecht aufmerksam gemacht worden sind, die Bedeutung ihrer strafbaren Handlung klar wird. Es ist zudem nicht zu über- sehen, dass die abstrakte Kenntniss des Sitten- und Strafgesetzes noch nicht die Fähigkeit involvirt, den eigenen concreten Fall unter diese allgemeinen Gesichtspunkte zu subsumiren. Dieses Wissen von Gut und Bös, Recht und Unrecht ist, ähnlich wie beim Schwach- sinnigen, ein ziemlich oberflächliches, anerzogenes, intellectuell noch nicht abgeklärtes, das sich zudem mehr oder weniger instinctiv geltend macht. Urtheil und Erfahrung sind noch dürftig, die Re- flexion eine oberflächliche, im Affect gänzlich darniederliegende. Es wird für die Klärung der Thatfrage viel mehr darauf an- kommen, in welcher Umgebung der jugendliche Verbrecher bisher lebte, ob die socialen Verhältnisse derart waren, dass er ein Rechts- bewusstsein bekommen konnte oder musste, ob sich dieses in sei- nem Vorleben in früheren Urtheilen und Handlungen wirklich be- thätigt hat. Es wird hiebei auch viel auf die Qualität der verübten straf- baren Handlung ankommen. Ein Diebstahl wird früh als Unrecht erkannt, nicht aber die widerrechtliche Aneignung einer gefundenen Sache, das Unrecht einer Münz- oder Urkundenfälschung, nicht die Möglichkeit, dass bei einer Brandstiftung Menschenleben zu Grunde gehen, der Brand durch besondere Umstände weitere Dimensionen als der Thäter beabsichtigte, annehmen konnte. Diese Erkenntniss der voraussichtlichen Folgen wird immer eine unvollkommene sein, w^enn auch das allgemeine Wissen von Recht und Unrecht nichts zu wünschen übrig lässt. Das nachgewiesene Fehlen des Unter- scheidungsvermögens führt nothwendig zu einer Freisprechung, weil die eine der Grundbedingungen der Zurechnungsfähigkeit fehlt. Der Nachweis seines Vorhandenseins verbürgt aber noch nicht die Zu- rechnungsfähigkeit, deren zweite Grundbedingung die libertas consilii ist. Ist die erste Grundbedingung durch Bejahung der Vorfrage nach dem Unterscheidungsvermögen entschieden, so muss die Frage nach dem Vorhandensein der zweiten gestellt, die Zurechnungsfähigkeit, richtiger die Selbstbestimnmngsfähigkeit, entschieden werden. Unter-](https://iiif.wellcomecollection.org/image/b21062407_0060.jp2/full/800%2C/0/default.jpg)