Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte und Studirende / von Dr. W. Griesinger.
- Griesinger, Wilhelm, 1817-1868.
- Date:
- 1871
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Credit: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte und Studirende / von Dr. W. Griesinger. Source: Wellcome Collection.
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![Anomalieen des Gemeingefükls. $]_ ob er keinen Kopf mehr hätte, als ob ein Arm oder ein Bein versteinert, von Glas wäre u. dergl. Oder ein einzelner Theil wird als ganz ungewöhnlich gross empfunden, und namentlich die Nase soll in manchen Fällen der Gegenstand dieser Täuschung gewesen sein. Als mehr vorübergehende Zustände werden bei Geisteskranken jene, auch den meisten Gesunden aus Träumen bekannten Empfin- dungen von flugartiger Erhebung in die Luft, von Herabgestürzt- werden aus einer Höhe, oder allgemeine Schwindelzustände, zu- weilen eine wirkliche Aura vor dem Anfall wie vor dem epileptischen Insult beobachtet. Der Sitz und die näheren Ursachen dieser Anomalieen des Ge- meingefühls sind schwierig zu verstehen. In einigen Fällen freilich hängen sie, z. B. das Gefühl von Fehlen eines Körpertheils, mit nachweisbarer Anästhesie oder noch mehr mit Analgesie des Organs offenbar zusammen; anderemale aber ist die peripherische Empfind- lichkeit der Hautoberfläche, vielleicht wohl auch die Schmerz- empfindung vollständig erhalten, und es mögen dunkle Verände- rungen der Muskelempfindung, die auch im gewöhnlichen Traume eine grosse Rolle zu spielen scheinen, die ursprüngliche Störung sein, deren sich nun die erklärende Reflexion zur Bildung von Wahnvorstellungen bemächtigt. Die Verwandlung in Thiere scheint weit mehr psychischen Ursprungs zu sein, und die Grundlage dieses Wahns mag auf dem gebieterischen Auftreten gewisser Triebe und Eigentümlichkeiten einzelner Thiergattungen, z. B. der Grausam- keit und Wildheit des Wolfs, beruhen; immer aber wird auch hier eine tiefe Abweichung von dem normalen leiblichen Gemeingefühle zur völligen Ausbildung der Wahn-Metamorphose erforderlich sein. Leuret (Fragra. psychol. snr la folie. Par. 1834. p. 101) hat einige ältere Beispiele dieser sogenannten Lycanthropie zusammengestellt und mit Fällen aus der neuesten Zeit, wo Geisteskranke in den Wäldern her- umirrten und in wildem Mordtriebe Kinder zerrissen und verzehrten, auf interessante Weise zusammengestellt. Wier erzählt noch aus dem Jahr 1541 das Beispiel eines Mannes aus Padua, der sich in einen Wolf ver- wandelt glaubte und auf dem Felde die Vorübergehenden anfiel und tödtete. „Ich hin wirklich ein Wolf, sagte er, „und dass meine Haut nicht der eines Wolfes gleicht, kommt nur daher, dass sie umgekehrt ist und die Haare nach innen stehen. Um sich hievon zu überzeugen, machte man allenthalben Incisionen und schnitt ihm Beine und Arme ab, so dass er an seinen Wunden starb. Die Beispiele, wo sich Geisteskranke für todt hielten und ihren Leih nicht als den eigenen anerkannten, sind zahlreich. Esquirol erzählt von einer Frau, welche glaubte, ihren Körper habe der Teufel geholt: die Hautfläche war vollkommen unempfindlich. Ebenso in folgendem Falle von Foville: Ein Soldat hält sich für todt seit der Schlacht bei Austerlitz, in Griesinger, psych. Krankhtn. 3. Aufl. 6](https://iiif.wellcomecollection.org/image/b21055324_0093.jp2/full/800%2C/0/default.jpg)