Nervosität und neurasthenische Zustände / von R. v. Krafft-Ebing.

  • Richard von Krafft-Ebing
Date:
1895
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Credit: Nervosität und neurasthenische Zustände / von R. v. Krafft-Ebing. Source: Wellcome Collection.

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    praktisch bedeutsame anomale Reactionserscheinungen im centralen Nerven- system, die noch nicht Krankheit im strengen Sinn des Wortes darstellen, aber jederzeit lind unvermerkt in Krankheitssymptome übergehen können, zusammenfassend zu bezeichnen. Mit dem Ausdruck „Nervosität“ alias neuropathische Constitution, nervöse Diathese, nervöses Temperament u. s. w., lässt sich eine meist angeborene krankhafte Veranlagung, seltener erworbene krank- hafte Veränderung des centralen Nervensystems bezeichnen, ver- möge welcher dieses eine abnorme Reactionsweise gegenüber endogenen Reizen (Verdauungs-, Ernährungs-, Stoffwechsel-, Wachs- thums-, Entwicklung^-, Involutionsvorgänge), gleichwie exogenen (Al- kohol, calorische, alimentäre Schädlichkeiten, Klima-und Witterungswechsel, psychische und mechanische Eindrücke u. s. w.) gegenüber bekundet. Im Allgemeinen lässt sich diese Reactionsweise dahin zusammen- fassen, dass für ein so geartetes oder verändertes Nervensystem die Reizschwelle abnorm tief liegt und dass durch Mangelhaftig- keiten in der Anlage und Ausbildung des Nervenmeckanismus (verminderte Leitungswiderstände, mangelhafte Hemmungsvorgänge) die Reize intensiv und extensiv Wirkungen hervorbringen, die bei einem nicht derart beschaffenen, d. h. nicht nervösen Organis- mus nicht zur Beobachtung zu gelangen pflegen. Die Reizschwelle kann dabei so tief liegen, dass selbst Reize, die in der Norm, d. h. bei rüstigem Nervensystem, keine merkliche Reaction bewirken, eine solche hervorrufen. Eine weitere Eigenthümlichkeit der Reactionsweise ist die Kürze der Reactionsdauer, die vielfach in einer überaus raschen Erschöpfung der Anspruchsfähigkeit des Centralorgans regionär begründet ist. Damit ergeben sich Ansätze und Uebergänge zur Neurasthenie. Die bisher besprochenen Reactionsanomalien sind quantitative. Streng genommen beschränkt sich der Begriff der Nervosität auf solche. e essende Hebeigän ge zur Norm der Nervengesundlieit, die aber beim Culturmenschen leider immer seltener wird, auf der einen Seite bietet, so weist sie andererseits solche zur neurotischen Belastung bis zur (functioneilen) Degeneration auf. Hier sind dann qualitativ abnorme (perverse) Reactionsanomalien möglich. Die Nervosität ist noch keine Krankheit, sondern nur eine Veranlagung zu solcher, sei es durch mit dem Zeugungskeim gegebene (hereditäre) oder in der Periode fötalen Wachsthums eingetretene schädigende Be- dingungen (angeborene Veranlagung), sei es durch antihygienische Einflüsse oder Krankheitsvorgänge, welche die spätere Entwicklung des Centralnervensystems gestört oder — in einer allerdings noch recht un-