Nervosität und neurasthenische Zustände / von R. v. Krafft-Ebing.

  • Richard von Krafft-Ebing
Date:
1895
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Credit: Nervosität und neurasthenische Zustände / von R. v. Krafft-Ebing. Source: Wellcome Collection.

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    Von nicht geringer Bedeutung ist ferner die Thatsache, dass biologische Vorgänge und Phasen (Dentition, Pubertät, Menses, Puerperium, Klimakterium) bei solchen nervösen Constitutionen ungewöhnlich mächtige Wirkung auf das centrale Nervensystem üben, die Disposition zur Er- krankung auffällig verstärken, so dass geringe äussere, nach Umständen selbst endogene evolutive oder involutive Vorgänge genügen, um Krank- heit des Nervensystems hervorzubringen. Dass die Nervosität nur der mildeste Ausdruck einer minder- werthigen Organisation des centralen Nervensystems im Uebergang zur Degeneration desselben im anthropologischen, biologischen und klinischen Sinne ist, ergibt sich aus den fliessenden Uebergängen jener zu dieser, aus dem Nebeneinandervorkommen von Nervosität neben der schwersten neurotischen Degeneration im Sinne der Idiotie, in derselben Generation und aus der gemeinsamen Ursache beider pathologischer Erscheinungs- formen qua hereditärer Belastung. Vielfach gewinnt man sogar den Eindruck, dass der Erfolg gemein- samer Bedingungen nur durch günstige Interferenzeinflüsse zu Gunsten blosser Nervosität paralysirt wurde und dass wirkliche und partielle Genialität, die so häufig auf dem Boden der neuropathischen Constitution wurzelt, und Idiotie keine unüberbrückbaren Gegensätze, sondern nur ver- schiedene Folgeerscheinungen von abnorm in die Entwicklung des Gehirns eingreifenden Factoren sind. Bei dieser Entstehungsverwandtschaft begreift es sich aber, dass anatomische und functionelle dauernde Abweichungen von der Norm der Artung und Functionsentwicklung, wie sie als Stigmata neurotischer De- generation bekannt sind, sogenannte Entartungszeichen, auch bei der mildesten Ausprägung der neurotischen Deterioration, also der Nervosität, sich vorfinden können. Ganz besonders bemerkenswerth ist, ausser Abweichungen vom Bildungstypus des Hirn- und Gesichtsschädels, der Ohrmuscheln, der äusseren Genitalien u. s. w., ein eigentümlicher, schwimmender, glänzender, fascinirender Ausdruck des Auges (Griesinger), der wo immer er sich findet, eine neuropathische Constitution erschliessen lässt. Als anatomische Grundlagen solcher krankhafter Veranlagung finden sich, offenbar als Ausdruck schon dem Zeugungskeim anhaftender abnormer Entwicklungstendenzen, vielfach Abweichungen vom Bildungstypus der Hirnwindungen, Anomalien in der Entwicklung der Gefässe des Gehirns, ferner Missverhältnisse zwischen Gehirnentwicklung und Gefässanlage (zu kleines Herz, zu enge Gefässe). In anderen Fällen lassen sich als anatomische Bedingungen für eine neuropathische Constitution Agenesien und Aplasien einzelner Gehirntheile durch während des Fötallebens erlittene regionäre Hirnerkrankungen oder