Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung : gesammelte Studien aus den Jahren 1912 bis 1914 / von Otto Rank.
- Otto Rank
- Date:
- 1919
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Credit: Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung : gesammelte Studien aus den Jahren 1912 bis 1914 / von Otto Rank. Source: Wellcome Collection.
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![()3 mit so starker affektiver Betonung- ausgestattete Trauer der Witwe völlig ernst und wahr zu nehmen, so liegt es nahe, ihre bis über den Tod hinaus währende Liebe ^ zum Gatten in letzter Linie auf die von ihm gewährte geschlechtliche Befriedigung zurückzuführen, welche die Witwe schmerzlich entbehrt'^. Sie trauert, grob gesprochen, dem Verlust des für sie unersetzlichen Phallus nach und wünscht ihn als liebevolles Andenken zu besitzen, ursprünglich wohl mit der geheimen Phantasie, sich damit auch weiterhin geschlechtlichen Genuß und Befriedigung zu verschaffen. Daß eine solche Phantasie dem, wenn auch uneingestandenen menschlichen Empfinden durchaus nicht fremd ist, lehrt nicht nur der japanische Brauch, wonach die Witwe den Penis ihres verstorbenen Gatten einbalsamiert aufbe- wahrt sondern auch einzelne aus unserem Kulturkreis überlieferte Fälle, die, mögen sie nun der Wirklichkeit oder einer Phantasie entsprechen, jedenfalls das Vorhandensein dieses Gedankenganges demonstrieren, „Schurig (Spermatologie, S. 357) berichtet im Beginn des 18. Jahrhunderts von einer belgischen Dame seiner Bekannt- schaft, die, als ihr leidenschaftlich geliebter Mann starb, dessen 1 Eine solche Liebe des Mannes zu einer toten Frau wird von Achilleus der Penthesilea gegenüber berichtet und Periander beschläft die tote Melissa nach Herodot. Ini Roman des Ephesiers Xenophon wird im Eingang des 5. Buches erzählt, wie Aegialeus dem Habrokomes seine ein- balsamierte Gattin zeigt, die ihm trotz Alter und Tod noch immer jugend- lich erscheine; er esse und schlafe mit der Leiche und denke dabei an die einstigen Festnächte (Griesebach, S. 113). Auch Karls des Großen Geliebte Fastrada bleibt nach dem Tode durch einen Zauberring unverweslich und gewinnt jedesmal neues Leben, sobald der sinnlich erregte Geliebte ihr naht. Diese Geschichte soll schon im 16. Jahrhundert auf den Londoner Bühnen aufgeführt worden sein (vgl. Koeppel, Quellenstudien zu den Dramen Chapmans, Massingers, Fords, 1897, S. 222, wo auch andere ähn- liche Darstellungen [S. 12] erwähnt werden). Einige Überlieferungen, die dieses Motiv der über das Grab hinaus währenden Liebe in charakteristischer Einkleidung darstellen, habe ich in meiner Studie „über die Nacktheit in Sage und Dichtung” behandelt Andere Beispiele bei Jones: „Der Alptraum” (Sehr. z. angew. Seelenkunde, Heft XTV, 1912, S. 39). 2 Über das Rühmen der physischen Vorzüge des verstorbenen Gatten durch die Witwe vgl. man das in Ed. Fuchs’ lllustr. Sittengesch., Bd. Re- naissance, Hauptwerk S. 164, Ergänz. S. 40 mitgeteilte Material. 3 Siehe F. S. Krauss: Das Geschlechtsleben in Glaube, Sitte und Ge-](https://iiif.wellcomecollection.org/image/b29816531_0077.jp2/full/800%2C/0/default.jpg)